Bericht über das 5. Internationale Jost Bürgi Symposium

Experten-Workshop

 

Das diesjährige Jost Bürgi Symposium fand leider, der Pandemie geschuldet, nur virtuell statt. Damit wurde der wesentliche Vorteil dieses Ereignisses eingeschränkt, nämlich der persönliche Meinungsaustausch von professionellen Historikern mit interessierten Laien auf gleicher Augenhöhe, und entsprechend unwohl fühlten sich vorher die Organisatoren. Aber es kam besser als gedacht. So folgten dem Workshop am Freitag, 30. April bis zu 45 Teilnehmer, also mehr als bei den Präsenzveranstaltungen in den vergangenen Jahren, und von den Teilnehmern kamen diesmal viele auch aus Deutschland und Österreich. Und es konnte gewagt werden, zwei Referenten aus USA einzuladen, allerdings unter der verständlichen Bedingung, dass ihre Referate nicht zu ihrer Nachtzeit gegeben werden müssen.

 

Die Vorträge präsentierten die gesamte Breite des Bürgischen Schaffens: Karsten Gaulke, Leiter des Astronomisch-Physikalischen Kabinetts in Kassel, präsentierte dessen Triangularinstrument, welches bei der Vermessung der Landgrafschaft Hessen-Kassel zum Einsatz gekommen sein soll. Die Replizierung des Instruments hat es erstmals ermöglicht, es auf seine messtechnische Tauglichkeit zu überprüfen. Dagegen widmete sich Günther Oestmann von der TU Berlin der Ortsbestimmung auf See und schlug dabei einen chronologisch weiten Bogen von der küstennahen Navigation früherer Jahrhunderte über das sogenannte „Zeitalter der Entdeckungen“, in dem neue Verfahren und Instrumente zum Einsatz kamen, der Entwicklung der Seekarte und der Lösung des Längenproblems bis hin zum Aufkommen der satellitengestützten Ortsbestimmung. Da Bürgi kein Latein beherrschte, aber spürte, dass er die neuen Erkenntnisse von Nicolaus Copernicus in seinen Arbeiten berücksichtigen müsse, war er an einer Übersetzung von dessen Hauptwerk ins Deutsche interessiert. Jürgen Hamel von der Archenhold-Sternwarte in Berlin berichtete von der Anfertigung dieser durch den Astronomen Nicolaus Reimers Ursus als Gegenleistung für die Vermittlung mathematischer Dinge durch Bürgi.

 

Aus Anlass des 400sten Jubiläums der Veröffentlichung von Bürgis „Progresstabulen“ waren vier weitere Vorträge den Logarithmen gewidmet: Bernhard Braunecker aus Rebstein, der kurzfristig für den Referenten Jan Lacki einspringen musste, berichtete darüber, dass man Bürgis Idee des logarithmischen Rechnens auch in einer diskreten Variante findet, die der modernen Verschlüsselung von Daten zugrunde liegt. Der frühen Geschichte der Logarithmen war der Vortrag von Detlef Gronau von der Universität Graz gewidmet, in dem es nach einem kurzen Abschnitt über die Eigenschaften der Logarithmusfunktionen um die Beiträge von Michael Stifel über Jost Bürgi, John Neper, Henry Briggs, Johannes Kepler u.a. bis Leonhard Euler zu den Logarithmen ging. Mit den Details der Erfindung und Verfertigung von Bürgis Potenzentabellen beschäftigte sich Klaus Truemper von der University of Texas at Austin, etwa mit den Hilfsmitteln, die Bürgi bereits zur Verfügung standen, aber auch mit der geistigen Nähe der Titelseite der „Progresstabulen“ zu einer Rechenscheibe. Die Brücke zu den erst vor Kurzem von Menso Folkerts wiederentdeckten Sinustabellen Bürgis schlug Jörg Waldvogel von der ETH Zürich, der die Erzeugung, Genauigkeit, Kontrollen und Fehlerstatistik der Bürgischen Tabellen analysierte und die Lücke zum natürlichen Logarithmen und der, auch von Euler betrachteten, Exponentialfunktion schloss.

 

Der Expertenworkshop wurde durch zwei Vorträge beendet, die Bürgis Schaffen mit der Ausbildung von Lehrpersonen und dem Schulunterricht in Verbindung setzten: Kathleen Clark von der University of Florida at Tallahassee berichtete von der Verwendung der vor gerade einmal vor fünf Jahren publizierten deutsch-englischen Übersetzung der Einleitung der „Progresstabulen“ als didaktisches Instrument für die Sekundar- und Tertiarausbildung und auch zur Korrektur verkürzender historischer Darstellungen. Und Roman Oberholzer, St. Niklausen, stellte Möglichkeiten vor, Jugendliche von heute mit Bürgi in Kontakt zu bringen, zum einen durch eine Unterrichtsmappe mit historischen, mathematischen, astronomischen, usw. Beiträgen für Lehrpersonen und zum anderen durch Exkursionen von Schulklassen nach Lichtensteig. Alle neun Referate begeisterten, unabhängig von ihrem speziellen Inhalt, und führten zu lebhaften, ungezwungenen und stimulierenden Diskussionen.

 

Das geschah dank der geschickten Moderation von Peter Ullrich, der übrigens auch Ende August auf der gemeinsamen Jahrestagung von SPG und ÖPG in Innsbruck über Kepler, Tycho Brahe und Bürgi vortragen wird. https://www.sps.ch/home 

 

Zukunftsforum

 

Am Samstagvormittag, dem Bürgi Zukunftsforum, standen fünf Vorträge an, wobei die Referenten nach Lichtensteig gebeten wurden, um an der Schlussdiskussion gemeinsam aufzutreten. Fritz Heiniger, Physiker, skizzierte Bürgi als Eigendenker, unbeeinflusst von gängigen Lehrmeinungen, was seine robusten Lösungsansätze erklärte, aber auch seine Defizite in der Kommunikation. Heiniger stellte auch Hippias von Elis als Früh-Bürgianer vor, der die mathematisch unlösbare Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal dennoch approximativ schaffte, weil er, ganz moderner Physiker, der, wenn alles klemmt, neue Parameter definiert, hier die Synchronisierung zweier Zirkel-Lineal Bewegungen einführte. Erich Windhab von der ETH sprach über die Herstellung von pflanzlichem Fleisch mit Extrudern und zeigte, dass der mit Luftbläschen aufgelockerte Brei aus Erbsenproteinen durch geschickte Wahl der Spritzdüsengeometrie und der Betriebsparameter Druck und Temperaturgradient zu stabiler faseriger Struktur umgewandelt werden kann. Er unterstrich, dass die erfolgreichen Bläschenverformungen mittels Tensoren beruhten, sowie auf neuester Röntgentechnik vom PSI. Also ohne physikalisches Wissen sind diffizile Industrieprozesse heutzutage nicht mehr denkbar. Ulrich Claessen, ebenfalls Physiker und CTO von maxon motors, zeigte anschliessend neueste Aufnahmen der Mars Mission Perseverance. Maxons Raumfahrtaktivitäten sind geschickt strategisch platziert, denn sie laufen parallel zum Kerngeschäft, sind selbst tragend und verschaffen der Firma internationales Ansehen, wichtige Kontakte und technisches Know How. Danach nahm Wolfgang Kröger das heikle Thema der Kernreaktoren neuerer Bauart auf. Er stellte in ruhiger und unaufgeregter Weise die Vorteile, aber auch die noch zu lösenden Probleme verschiedener Varianten dar.  Es bestätigte sich, was wir  im Vorfeld schon ahnten, dass die Bevölkerung sehr daran interessiert ist, zu erfahren, mit welchen Energievarianten die Welt sich beschäftigt. Der Vortrag gab einen erfreulichen Vorgeschmack auf die demnächst erscheinende neue Publikation der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft, SPS Focus, wo Kröger dasselbe Thema ausführlicher behandeln wird. Abschliessend referierte noch David Bosshart vom Gottlieb Duttweiler Institut über psychologisch-soziale Aspekte besonders im Zeichen einer Pandemie. Unsere westliche Gesellschaft ist geprägt von Optimismus und Hoffnung gepaart mit einem Schuss Angst als regulatives Element. Dieses sensible Verhältnis kann in Zeiten der Verunsicherung gestört werden, was sich sofort in irrationalem Verhalten niederschlägt. Man muss dem gegensteuern, unter anderem, dass Wissenschaftler nicht politische Empfehlungen geben, die Politiker nicht umsetzen können, und dass Politiker wissenschaftliche Erkenntnisse nicht je nach Stimmungslage in ihrem Sinne interpretieren. Vertrauen und Kommunikation sind dann wichtiger denn je, und hier wäre vermutlich der knorrige Bürgi kein so gutes Vorbild. Aber er wäre bestimmt kein 'Querdenker', sondern, da Vernunft geprägt ein 'Andersdenker'.

 

Die meisten der Vorträge 2021 sind demnächst auch von der Bürgi Webseite unter der neuen Rubrik Bibliothek abrufbar, seien es die PowerPoint Folien oder auch eigene Berichte der Autoren. ->Bibliothek

 

Bernhard Braunecker und Peter Ullrich 

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