Jost Bürgi fürchtet Tycho Brahe zu Recht

Keinem anderen grossen Wissenschaftler gelang es, seine revolutionären mathematischen Methoden so lange geheim zu halten, wie dem Schweizer Jost Bürgi (1552-1632). Mehr als vierhundertzwanzig Jahre lang wusste niemand etwas von seinem 1587/92 verfassten Werk «Fundamentum Astronomiae». Wie man jetzt feststellte, arbeitet es mit Rechenmethoden, die gemäss den Geschichtsbüchern der Mathematik erst sehr viel später entwickelt worden sein sollen und die Bürgi selbst wie seinen Augapfel hütete. Er tat dies nicht aus Geiz, sondern aus Angst.

Da soll also ein Schweizer Uhrmacher Rechenverfahren und Algorithmen entwickelt haben, die seit vier Jahrhunderten grossen englischen Mathematikern zugeordnet

sind: der Differenzenrechnung und Quinquisection des Henry Briggs (1623), der des John Newton (1692) bis hin zum Difference Engine des Charles Babbage (1870).

Tycho Brahe (1548–1601).

Der Astronom, der Jost Bürgis besten Freund Raimarus Ursus zuerst die Stelle als Kaiserlicher Mathematiker abnahm und dann ebenfalls an seinem Tod nicht

unschuldig ist. Obwohl Tycho Brahe schon 1601 stirbt, beeinflusst dieser durch seine Erben 1609 noch in der «Astronomia Nova» und selbst noch 1627 in den «Rudolfinischen Tafeln» die Tilgung von Namen wie Wilhelm IV oder deren herabsetzende Erwähnung wie denjenigen Bürgis.

Jost Bürgi (1552–1632) ist 1600 über die Todes-nachricht des Kaiserlichen Mathematikers Nicolaus «Ursus» Reimers zutiefst betroffen. Er trauert um seinen besten Freund, er ist wütend auf den verlogenen und angsteinflössenden Brahe sowie zornig über das kaiserliche Unrecht. Und er verspürt seit Beginn des von Brahe vorgeschobenen Plagiatstreites eine in ihn kriechende Angst: genauso kann es ihm jederzeit auch selbst ergehen. Je weniger Brahe von den Erfindungen Bürgis erfährt desto geringer ist die Gefahr, dass er sie ihm auf unlautere Art                                                     entwindet.


Was ist der Grund für Bürgis Geheimnistuerei?

Was kann denn so wichtig an dieser Mathematik eines Uhrmachers sein, der gerade einmal sechs Jahre lang eine Schulbank gedrückt haben soll? Der kein einziges

Buch veröffentlicht hat, aber sechs Jahre nach dem 1614 erschienenem Napier-Buch über die Logarithmen ein 60-seitiges Heftchen «Progresstabulen» mit lauter Tabellen aus roten und schwarzen Zahlen ohne Erläuterungen drucken liess, dass keine Chancen gegen die mittlerweile erschienen Briggsschen Logarithmentafeln hatte und bald wieder vom Markt verschwand. Die Bürgi-Forschung wendet sich heute mehr denn je dieser Frage zu. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass der dänische Astronom Tycho Brahe eine wesentliche Ursache von Jost Bürgis Geheimhaltung darstellt. Obwohl Autodidakt und Legastheniker, Nichtadeliger und Nichtlateiner, fand der gelernte Uhrmacher in Kassel und Prag hochrangige Förderer seiner aussergewöhnlichen mathematisch-technischen Fähigkeiten. Vor allem am Hofe des Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel konnte er sich zum Nutzen seines Fürsten, der Astronomie und der Mathematik sowie von sich selbst in Höhen

entfalten, die wir erst heute wiederentdecken, weil Bürgi seine Manuskripte verbarg.

 

Brahe-Gigantismus (links) mit fünf Meter Radius messenden Quadrant maximus aus Holz, gebaut 1576 in Göggingen bei Augsburg. Bald darauf bei Gewittersturm zerstört. Rechts: Bürgis wesentlich kleinerer, genauerer und transportierbarer Metallsextant, heute im Nationalen Technischen Museum Prag. Eingesetzt von Kepler und Bürgi in Prag. Hergestellt 1593 in Kassel.

 

 

Von Wilhelm den Weissen zu Tycho dem Tyrannen

Als Sohn eines Schlossers repräsentierte Jost Bürgi ein rangniedriges Mitglied der damals ausserhalb der Schweiz noch sehr strengen Ständegesellschaft, die durch

rigorose Barrieren stabilisiert sowie in nur geringem Umfang durchlässig war. Doch mit seinen beruflichen Fähigkeiten bei der Uhren- und Himmelsgloben-Fertigung

und vor allem mit seinen mathematischen und astronomischen Innovationen stiess er in das wichtige Kompetenzfeld Astronomie vor. Es war von hochrangigen sowie

gleichzeitig hochintelligenten Mitgliedern der Aristokratie besetzt: zunächst von Bürgis Dienstherrn Wilhelm IV – Onkel des amtierenden habsburgischen

Kaisers Rudolf II. – und nach Wilhelms Tod im Jahre 1592 von Tycho Brahe, Spross eines der dänischen Königsfamilie nahestehenden Adelsgeschlechtes, der

bereits als Zwölfjähriger ein Universitätsstudium der Mathematik aufgenommen hatte. Dramatischer hätte der Wechsel vom Wilhelm «der Weise» genannten

hessischen Fürsten zum Tycho «den Tyrannischen» kaum sein können. wie denjenigen Bürgis.

 

Der arrogante Rothmann

Auf seine Defizite wurde Jost Bürgi ausserhalb der sich vom Adel emanzipierenden Schweiz schonungsloser hingewiesen. Eine erste Erfahrung mit dem reaktionären Stil hatte Bürgi mit dem Tycho-Bekannten und als Astronom und Mathematiker an der Kasseler Sternwarte tätigen Theologen Christoph Rothmann gemacht. Er weigerte sich, diesem nicht einmal des Lateins mächtigen Uhrmacher namentlich mit Jost oder Bürgi, geschweige denn mit Herrn Jost oder Herrn Bürgi anzusprechen,

sondern rief ihn nur «Automatopaeus» (Automatiker) oder «Illiteratus» (Unbelesener, d. h. Dummkopf) und schrieb nach gemeinsamen Himmelsobservationen nie Bürgis Namen ins Protokoll. Anstatt sich mit dem «Illiteratus» Jost Bürgi abzugeben, korrespondiert Rothmann lieber mit Seinesgleichen, darunter dem als grössten Gelehrten seiner Zeit bezeichneten englischen Mathematiker und Geheimagenten der englischen Königin Elizabeth I, Dr. John Dee, oder mit Tycho Brahe, der auf der Öresundinsel Hven in seinen beiden grossen Observatorien Stjerneborg und Uraniborg während mehr als einem Jahrzehnt bis zu dreissig Personen gleichzeitig beschäftigte.

 

Nasenprothese nach Duell

Der streitbare, jede Gelegenheit zur Aneignung von Wissen wahrnehmende und vielfach als seine Erfindung ausgebende Brahe begnügte sich wie Rothmann im Umgang mit Anderen nicht mit hochnäsigen verbalen Beleidigungen, sondern wurde schnell handgreiflich. Brahe verlor schon als 20-Jähriger bei einem Duell die Nase,

schikanierte seine nahezu leibeigenen Bauern bis aufs Blut und zählte einen damals Liliputaner genannten kleinwüchsigen Menschen als vorlauten, die Gäste

beleidigenden Hofzwerg zu seiner Entourage.

 

Tod des besten Freundes

Nachdem Brahe wegen seines aggressiven Verhaltens aus Dänemark verbannt wird, findet er die Sympathie des Kaisers Rudolf II, der ihn als seinen kaiserlichen Astronomen beruft. Noch bevor Brahe nach Prag kommt, entledigt er sich seines Vorgängers im Amt, des kaiserlichen Mathematikers Ursus. Hatte dieser gemeine Mann

bäuerlicher Abstammung doch die Frechheit besessen, im Plagiatstreit ihm, Tycho dem Hochadeligen, mit gleichen Schimpfworten zu antworten. Brahe fällt es nicht schwer, den Kaiser zu überzeugen, diesem rotzfrechen Plagiator eine Lektion zu erteilen und Ursus strecken, enthaupten, vierteilen und rädern zu lassen. Sofort fällt Ursus bei Rudolf II. in Ungnade und entgeht der Vollstreckung dieses Urteils durch eine tödlich verlaufende Schwindsucht.

 

 

Tycho Brahes dreistöckiges Astronomisches Observatorium Uraniborg. Finanziert durch den dänischen König bzw. Staat mit einem weiteren tiefergelegten Observatorium Stjerneborg. Hier erhebt Brahe von 1579 bis 1597 den Grossteil seiner Himmelsdaten mit bis zu dreissig Mitarbeitern gleichzeitig. Wegen schikanöser Führung wird Brahe von der Venus-Insel, auf der beide Gebäude errichtet wurden, 1597 des eigenen Landes verwiesen. Schlimmer noch: er wird nach Ursus’ Tod dessen

Nachfolger in Prag und gestaltet die Geschichtsschreibung nach seinem Wunsch. Selbst Kepler ist an seine bzw. seiner Erben Weisungen gebunden.

 

Bürgi in gleicher Gefahr

Diese unfaire und brutale Machtdemonstration des für seine Rücksichtslosigkeit und Arroganz bekannten Tycho Brahe ist ein wichtiger Grund Bürgis, seine neuen

mathematischen Methoden nicht jedermann und besonders nicht Brahe zugänglich zu machen, denn niemand würde davon stärker profitieren als Brahe. Bürgi wird schmerzlich bewusst, dass es ihm unter Brahes Regime jederzeit gleich ergehen könnte, wie seinem besten Freund Ursus. Nur nicht auf sich aufmerksam machen! Brahe nichts in die Hand geben, wovon dieser profitieren könnte, oder dass er für die Inszenierung eines Plagiates missbrauchen könnte.

 

Auf Kepler angewiesen

Brahe ist mathematisch nicht in der Lage, die Beobachtungsdaten auszuwerten und benötigt dazu Kepler – und Kepler benötigt dazu Bürgis moderne Algorithmen der

Mathematik, die er von ihm erhält. Die Machtverhältnisse hatte Kepler bald durchschaut und sich ihnen gebeugt. Keplers Hauptaufgabe ist es, Tycho Brahes Himmelsmessungen auszuwerten, aber nur das zu publizieren, was die Brahe-Erben genehmigen. Die Brahe-Erben wachen sogar darüber, wie gross die Namen gedruckt

werden. Und sie entscheiden, wer aus der Geschichte zu tilgen ist – Wilhelm IV beispielsweise – oder wer kurz der Blamage ausgesetzt wird, Bürgi zum

Beispiel. Kepler ist sowohl Bürgi als auch Brahe gegenüber mit Schweigegeboten verpflichtet und Bürgi unterliegt gleich zweifach der Zensur.

 

Existenzielle Angst anstatt Geiz

Als fleissigster Sammler von Gestirndaten schaffte es Brahe neben Galileo Galilei und Johannes Kepler bis in den Astronomen-Himmel. Und Bürgi blieb verborgen! Der

Aufstieg gelang dem fleissig mit eigener Druckerei publizierenden Tycho Brahe nur im Schlepptau Johannes Keplers – und paradoxerweise damit auch mit Jost

Bürgis Hilfe. Es gibt wohl nur wenige Wissenschafter, die so unterschätzt wurden wie Jost Bürgi und noch weniger, die zu dieser Fehlbeurteilung selbst so viel beitrugen. Doch war es weniger Geiz als Angst, die sein Verhalten bestimmte.

 

Fritz Staudacher

 

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