DER IN LICHTENSTEIG IM TOGGENBURG (SCHWEIZ) GEBORENE SOWIE IN KASSEL AM FÜRSTENHOF WILHELMS IV. UND IN PRAG AM KAISERHOF RUDOLFS II. IN HOHE POSITIONEN BERUFENE JOST BÜRGI (1552–1632) IST EIN UNIVERSALGENIE DER MATHEMATIK, DER UHRENHERSTELLUNG, DER HIMMELSGLOBEN-FERTIGUNG UND DER ASTRONOMIE. DAMIT GEHÖRT ER MIT SEINEN ZEITGENOSSEN JOHANNES KEPLER, GALILEO GALILEI UND TYCHO BRAHE ZU DEN BEDEUTENDSTEN DIE NEUZEIT PRÄGENDEN PERSÖNLICHKEITEN.
Jost Bürgi ist Uhrmacher, Instrumentenkonstrukteur, Mathematiker und Astronom in ein- und derselben Person. Mit hoher handwerklicher Präzision, innovativen Konstruktionen und neuartigen mathematischen Methoden erbringt er in jedem dieser Gebiete die höchsten Leistungen seiner Zeit und vereint sie zu einer einzigartigen Qualitätsprozesskette der neuen Astronomie. Seine mathematischen Verfahren sowie seine astronomischen Instrumente und Beobachtungswerte nutzt er nicht nur selbst für die Erstellung hochgenauer Himmelsgloben und des ersten Sternverzeichnisses der Neuzeit, sondern stellt diese auch Johannes Kepler zur Verfügung, mit dem er von 1603 bis 1612 als Kaiserlicher Hofuhrmacher in Prag vertrauensvoll zusammenarbeitet und zu dessen Erkenntnissen er entscheidend beiträgt.
Diese im Uhrmacherhandwerk des Kaiserreiches höchste und besser als Johannes Kepler vergütete Position erreicht Jost Bürgi nach lediglich sechs Schuljahren und einer Berufsausbildung zum Uhrmacher als Autodidakt ohne Studium und ohne Beherrschung der damaligen Wissenschafts-Weltsprache Latein. Noch immer weitgehend unbekannt ist bis heute sein auf der Walz eingeschlagener Berufs- und Weiterbildungsweg. Erstmals archivalisch fassbar wird Bürgi als er als 27-Jähriger am Hofe Wilhelms IV. von Hessen-Kassel einen Anstellungsvertrag als Hofuhrmacher unterschreibt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kam er von Lichtensteig über Augsburg und Nürnberg nach Kassel, auf dessen Sternwarte er von 1579 bis 1603 all seine genialen Fähigkeiten entfalten kann. Sein letzter Karriereschritt führt ihn im Alter von 52 Jahren in seine dritte Lebensphase 1604 nach Prag, in das er von Rudolf II. als Kaiserlicher Uhrmacher berufen wird. Von hier kehrt Jost Bürgi inmitten des Dreissigjährigen Krieges in seine Wahlheimat Kassel zurück, wo er einen Monat vor der Feier seines 80. Geburtstages am 31. Januar 1632 verstirbt und seine letzte Ruhestätte findet.
Jost Bürgi ist zusammen mit John Napier Mitbegründer der die Wissenschaft und Technik während drei Jahrhunderten prägenden Logarithmen-Rechnung und ebenso Autor der ersten europäischen Anwendung der Differenzenrechnung zur Erstellung von Sinustabellen einschliesslich der Generierung von Tabellenwerten durch Polynom-Approximation, der sinuskonformen Prosthaphärese, der schnellsten Bestimmung gleich mehrerer Sinusse in gewünschter Genauigkeit und der genauesten Sinustabelle seiner Zeit. Jost Bürgis Mathematikmethoden liegen zeitlich vor den in den Geschichtsbüchern als ihre Erfinder angegebenen John Napier, Henry Briggs, Isaac Newton, Gaspard Riche de Prony und Charles Babbage. Ohne die Ausspionierung von Bürgis „Goldenem Kunstweg zur Sinusbestimmung“ und seine intensive Nutzung durch Henry Briggs wäre diese algebraische Methode ausserhalb Bürgis Atelier bis zur Auffindung des Bürgi-Manuskriptes „Fundamentum Astronomiae“ im Jahre 2013 ungenutzt geblieben. So kam es, dass sich zwar nicht Bürgis Name, aber seine Erfindungen weltweit entfalteten und teilweise unter anderem Namen zum Fortschritt beitrugen, währenddem sein Name in Vergessenheit geriet. Seine gut mit ihm vertrauten Zeitgenossen verglichen Bürgi mit Archimedes und Euklid und zwei Kaiserliche Mathematiker bezeichneten ihn als ihren Lehrer: Nicolaus „Ursus“ Reimers, mit dem er in Kassel eng befreundet ist, und Johannes Kepler, mit dem er in Prag zusammenarbeitet.
Jost Bürgi ist an der ersten von Wilhelm IV. von Hessen-Kassel permanent eingerichteten europäischen Sternwarte der Neuzeit nicht nur als Hofuhrmacher und Instrumentenverantwortlicher tätig, sondern ebenfalls als wichtigster Himmelsbeobachter. Er ermittelt in sich über mehrere Jahre erstreckenden Beobachtungsserien mit den von ihm selbst entwickelten Winkel- und Zeitmessinstrumenten in unübertroffener Präzision die Positionen aller Arten von Himmelsobjekten. Diese Messwerte rechnet er mit eigenen Mathematikverfahren in sphärische Positionsdaten um. Daraus entsteht durch ihn zusammen mit dem Astronomen Christoph Rothmann der erste Sternkatalog der Neuzeit mit doppelt so hoher Genauigkeit als derjenige Tycho Brahes. Ihren Niederschlag finden Bürgis Messwerte – darunter auch zahlreiche Marspositionen – in seinen Instrumenten und wahrscheinlich ebenfalls in Johannes Keplers Berechnungen einer elliptischen Planetenbahn. Auf der Basis seiner Erde/Sonne- und Mond-Messreihen erstellt Jost Bürgi bereits 1591/92 in Kassel eine für ihre hohe Genauigkeit bekannte Mond- und Sonnen-Äquationsuhr, deren Abweichungen er durch einen elliptischen Bahnverlauf mit mechanischen Komponenten realisiert. Wie sein Dienstherr Wilhelm der Weise propagiert auch Jost Bürgi das damals noch als ketzerisch betrachtete heliozentrische Kosmosmodell des Kopernikus. Deshalb ist an einer Seitenwand dieser heute in Kassel ausgestellten Renaissanceuhr die erste plastische Darstellung des Kopernikus zusammen mit den die Sonne und nicht die Erde umkreisenden Planeten zu sehen.
Jost Bürgi revolutioniert 1584 die Zeitmessung durch die Konstruktion der weltersten Observatoriumsuhr mit Sekundengenauigkeit und ihren Einsatz bei der ersten Sternvermessung nach der Horizontalmethode. Gegenüber herkömmlichen Uhren gelingt es ihm als Hofuhrmacher an der Sternwarte des Landgrafen Wilhelm IV. in Kassel, die damals höchste Ganggenauigkeit einer Uhr von einer Viertelstunde Abweichung pro Tag auf eine Minute zu senken. Dafür entwickelt er die doppelte Kreuzschlaghemmung und den automatischen Zwischenaufzug, die ihm in Verbindung mit seiner hohen Fertigungspräzision der Zahnräder einen Quantensprung ermöglichen, der erst mit der Erfindung der Pendeluhr acht Jahrzehnte später übertroffen wird. Die Sekundenbestimmung erfolgt durch Ablesung eines Sekundenzeigers, ist aber auch hörbar und ermöglicht die Einmann-Observation. Die hier abgebildete und heute in Wien in der Rudolfinischen Kunstkammer ausgestellte Kristallglobusuhr wurde von Jost Bürgi selbst als sein Meisterwerk bezeichnet und entstand zwischen 1622-1627 durch den bereits Siebzigjährigen in seiner Werkstatt auf dem Hradschin in Prag. Bestellt hatte sie der Fürst Karl von Liechtenstein zum Dank für seine Aufnahme in den Orden des Goldenen Vlieses für den Habsburger Kaiser Ferdinand II.
Jost Bürgi baut während seiner Tätigkeit als Hofuhrmacher in Kassel ausser einem Planetenglobus mindestens zehn automatisierte Himmelsgloben, in die seine gesamten astronomischen, mathematischen und konstruktionstechnischen Erkenntnisse und handwerklichen Fähigkeiten einfliessen. Als sein perfektestes und genauestes automatisches 3-D-Himmelsglobusmodell der Renaissance gilt der im Schweizerischen Nationalmuseum ausgestellte und hier abgebildete sogenannte Zürcher Himmelsglobus, den er 1594 in Kassel für Kaiser Rudolf II. fertigt. Auf der nur 14,2 cm Durchmesser grossen vergoldeten Kugel, deren Oberflächengrösse gerade einmal derjenigen eines A4-Blattes entspricht, sind zusätzlich zu den von Antonin Eisenhoit 47 künstlerisch eingravierten Sternbildern 1026 Fixsternpositionen in nach ihrer Leuchtkraft angegebener Grösse angebracht. Durch zwei eingebaute Uhrwerke stellen sie fortlaufend den aktuellen Sternenhimmel und mit einem Sonnensymbol rund um die Uhr den jeweiligen Sonnenstand dar. Dieser astronomische Himmelsautomat besticht nicht alleine durch seinen hohen Informationsgehalt, sondern ebenfalls durch seine von Bürgi mit originellen mechanischen Innovationen realisierten Funktionen. So zeigt dieser Himmelsglobus im horizontalen Kalenderring ausser dem aktuellen Datum und dem Namen des Wochentages auch die wechselnden Namen der kirchlichen Sonn- und Feiertage an und berücksichtigt automatisch Schaltjahre. Unübertroffen ist auch die Genauigkeit der Abgriffsmöglichkeiten der Fixsternpositionen mittels drei verschiedenen Koordinatensystemen für jeden in der Vergangenheit und in der Zukunft gewünschten Zeitpunkt.
Fritz Staudacher, Autor der 2013 erstmals erschienenen Biografie „Jost Bürgi, Kepler und der Kaiser“ sowie Gründer des Internationalen Jost-Bürgi-Symposiums in Lichtensteig. Es ist heute in alljährlich zwei Veranstaltungsformate geteilt: den Experten-Workshop und das Zukunftsforum.